Das Finther Neubaugebiet F90 erhielt den Straßennamen „Am Hochgericht“. Was hat es mit dieser Bezeichnung auf sich?

Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen und damit auch in Kurmainz, beruhte das Gerichtssystem auf der Niederen und der Hohen Gerichtsbarkeit. Während sich die Niedere Gerichtsbarkeit in der Regel mit geringeren Delikten des Alltags befasste, die mit Geldbußen oder leichteren Leibstrafen sühnbar waren und die mit dem Pranger, dem Tragen des Lästersteins oder dem Schandpfahl bestraft wurden, wurden am Hohen Gericht oder auch Hochgericht schwere Verbrechen wie Mord, Raub Diebstahl, Vergewaltigung und Hexerei geahndet.

Das Hohe Gericht, auch als peinliche (vom lat. Poena = Strafe) Gerichtsbarkeit bezeichnet, war dem Landesherren (Ortsherren) vorbehalten. Die Strafen umfassten den Tod oder auch Verstümmelungen, weshalb das Hochgericht als Blutgerichtsbarkeit bezeichnet wird.1

In Finthen wurde in der Bogenhalle des Alten Rathauses Gericht gehalten.
Details sind leider nicht bekannt, entsprechende Urkunden fehlen bislang. Mündlich wird ein Schandpfahl neben dem alten Rathaus überliefert, aber wo befand sich die Richtstätte für die schweren Verbrechen?

Die Richtplätze lagen oft außerhalb der Ortschaften, an gut einsehbaren Stellen, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. In Finthen wird erstmals 1842 im Rahmen zur Aufnahme des hessischen Urkatasters das Flurstück „Am Hochgericht“ erwähnt. Nach Koch2 deutet der Name auf die Nähe einer Richtstätte hin. Er erklärt dies auch als für das Finther Flurstück zutreffend, obwohl die Existenz eines Richtplatzes dort bislang nicht zweifelsfrei nachgewiesen ist.

Wie die Präposition „Am“ verdeutlicht, handelt es sich es sich, um ein an den Richtplatz angrenzendes Flurstück und nicht um die Stelle der Richtstätte selbst. Deren Lage lässt sich nur indirekt und ungefähr durch die Lage des benachbarten Flurstückes „Am Hochgericht“ erschließen. Dieses lag südlich der heutigen L419 und wurde in seiner Ausdehnung im Süden in etwa vom Aubach, im Osten von der ehemaligen Gaststätte zur Krone und im Westen von dem Flurstück „Hinkelstein“, heute in etwa Obsthof Weyer begrenzt. In dem Flurstück liegen heute u.a. die Jean Pierre Jungels Straße, das Neubaugebiet F90 und der Waldorf-Kindergarten.

Der Richtplatz könnte zwar theoretisch überall angrenzen, aus Gründen der guten Sichtbarkeit und der damit gewünschten abschreckenden Wirkung, ist aber eine Lage an der heutigen L419 mehr als wahrscheinlich. Die auf römische Trassenführung zurückgehende Straße war über die Jahrhunderte hinweg ein wichtiger und viel genutzter Verbindungsweg zwischen Bingen und Mainz. Die Signalwirkung einer Richtstätte an dieser Straße war kaum übersehbar und eindeutig.

Wie es der Zufall wollte, spielte dem Verfasser dieses Aufsatzes der Zufall in die Hände. Auf der Suche nach historischen Karten fiel ihm die Karte „Kriegstheater der Teutschen und Franzoesischen Graenzlanden zwischen dem Rhein und der Mosel, im Jahr 1794. Zweites Blatt“ in die Hände, auf der, wie auf Karten des 15. bis 18. Jahrhunderts durchaus üblich, Gerichtsorte, bzw. Richtstätten gesondert markiert wurden. Siehe Abbildung unten.

Bei Finthen ist ein Symbol für einen Galgen sowie die textliche Hervorhebung mit der Bezeichnung „Galgen“ zu sehen. Damit ist die Existenz einer Finther Richtstätte erstmals nachgewiesen!

Die Karte zeigt die wichtigsten Straßen und Wege. Die Orte sind stilisiert dargestellt. Im Dreieck zwischen Fengenbergerhof, Finthen und Drais findet sich besagtes Symbol. Die genaue Lage im Gelände kann an Hand der nicht sehr genauen Karte nur grob eingeschätzt werden.

Das Symbol ist südlich der Straße von „Bingen nach Mainz“ und ungefähr in der Mitte zwischen dem Bruderweg im Westen und im Osten von dem Weg von Finthen nach Drais, der damals unmittelbar am Finther Ortsausgang begann,eingezeichnet. Das Galgensymbols liegt östlich des Flurstücks „Am Hochgericht“, das entsprechende Flurstück heißt „Hinkelstein“. Hier muss der Richtplatz gewesen sein, heute finden sich dort der Obsthof Weyer und die VOG-Martkthalle.

Abermals kam dem Verfasser der Zufall zur Hilfe. Auf der Suche nach weiteren Unterlagen im Internet, konnte er auf der Seite regionalgeschichte.de einen Aufsatz von 2014 von Karl Urhegyi entdecken, der unter anderem vom Heidesheimer Galgen handelt. Karl Urhegyi kommt zu dem Schluss, dass dieser am Bruderweg, gegenüber der Einfahrt zum Layenhof, an der Stelle lag, wo die Gemarkungsgrenzen von Wackernheim, Heidesheim und Finthen zusammenstoßen. Damit hätte dieser Galgen in unmittelbarer Nähe zum Finther Galgen gelegen. In diesem Aufsatz wird als Beleg der Ausschnitt einer Karte von 1816 gezeigt, siehe das Bild unten.

Auch auf dieser Karte liegt das Galgensymbol analog zur Karte von 1794 im Dreieck zwischen Finthen, Drais und Fengenbergerhof, südlich der heutigen L419.3

Der Verfasser dieses Aufsatzes geht deshalb davon aus, dass der Heidesheimer und der Finther Galgen identisch sind, was durchaus denkbar ist, denn bei den Gemarkungsgrenzen von Wackernheim einerseits und Heidesheim und Finthen andererseits, handelte es sich auch um Herrschaftsgrenzen. Während Wackernheim im 18. Jahrhundert zur Kurpfalz gehörte, lagen Heidesheim und Finthen in Kurmainzer Gebiet und unterstanden dem gleichen Hohen Gericht. Die Positionierung einer Richtstätte unmittelbar am Rande des eigenen zu einem anderen Herrschaftsgebiet, war durchaus übliche Praxis.

Wenn es nur einen Galgen für Heidesheim und Finthen gab, an welchem Standort befand er sich nun? Direkt am Bruderweg oder in der Nachbarschaft zum Finther Flurstück „Am Hochgericht“?

Grundlage für Karl Urhegyis Argumentation, ist das folgende, von der bereits zitierten Web-Seite, entnommene Zitat, in dem um das Jahr 1574 der Heidesheimer Galgenstandort so beschrieben wird:

"vor Finthen hin uff Ingelheim zu, bis an die Creutz und Creutzwege..., so von dem Erbachischen sandtoif [Sandhof] bei Heidesheim heruff beneben dem Heuser wäldtlin oder gestreuchen hin bis zu dem Bircker Waldt zu ghat, und bei solchem Creutz der Heydesheimer galgen stadt".

Nach Urhegyi nahmen die Heidesheimer Delinquenten den Bruderweg, der in Heidesheim auch als „Armsünderweg“ bezeichnet wird, ihren Weg zur Richtstätte.

Diese lag lt. obigem Zitat vor Finthen in Richtung Ingelheim, die Verurteilten mussten „bis an die Creutz und Creutzwege gehen“. Vom Sandhof kommend führte ein weiterer Weg zur Richtstätte und zwar der Weg, der auch am Häuser Wald und den Sträuchern vorbei, bis zum Birker Wald führte und „bei solchem Creutz“ steht der Galgen.

Beide beschriebene Wege, von Heidesheim und vom Sandhof kommend, vereinen sich kurz bevor sie auf die Straße Bingen – Mainz (heute L419) treffen und führen als ein Weg über sie hinweg. Heute ist die Stelle mit der Einfahrt zum Layenhof identisch. Dieses Teilstück heißt ebenfalls Bruderweg und führte am Heiserwald vorbei, bis hin zum Birkerwald. Letzterer ist wohl als Waldstück zu verstehen, das zum Birkerhof gehörte, während der Heiserwald zum Besitztum des Klosters Ingelheimerhausen (heute Haxthäuser Hof) gehörte, vom dem sich auch der Name Häuser-Wald, bzw. Heiserwald, ableitet.

Nach Auffassung des Verfassers kann der Galgen nur unmittelbar westlich neben dem Flurstück „Am Hochgericht“ gelegen haben, sonst ergäbe die Flurstückbezeichnung keinen Sinn. Das schließt eine Lage des Galgens direkt am Bruderweg aus, die Distanz wäre zu groß. Zusätzlich wird der Autor durch die Erwähnung der Kreuze und Kreuzwege in seiner Auffassung bestärkt.

Diese sind nach Meinung des Verfassers in Zusammenhang mit der Aachener Heiligtumsfahrt zu sehen, die seit 1349 (mit Unterbrechungen) im 7-jährigen Rhythmus durchgeführt wird. Die nächste Pilgerfahrt findet vom 9. - 19. Juni 2023 statt. Ein Teil der Pilgerstrecke führte über die Straße Mainz – Bingen. In unregelmäßigen Abständen waren an der Strecke Kreuze errichtet, an denen die Pilger zum einen pausierten und zum anderen, analog zu einem Kreuzweg, beteten.

Zwischen Finthen und Ingelheim finden sich zwei Flurstücke mit Kreuzbezug an der L419. An Stelle des Hotels Multatuli stand ab 1502 eine Kreuzkapelle, die nach einem steinernen Kreuz benannt wurde, das dort seit 1389 bestand und zu Gunsten der Errichtung der Kapelle niedergelegt wurde. Die Kreuzkapelle dürfte 1574 noch bestanden haben, sie wurde im Zuge der Reformation in der evangelisch geprägten Kurzpfalz niedergelegt.

Ein zweites Flurstück mit der Bezeichnung „Am Rothen Kreuz“ liegt in Finther Gemarkung, östlich versetzt gegenüber des Flurstücks Hinkelstein. Das Kreuz selbst dürfte direkt gegenüber des Galgens gestanden haben, vielleicht auch als Sinnbild für Schuld und Sühne.

Wenn nun in der Beschreibung von 1574 die Rede davon ist dass,“bei solchem Creutz der Heydesheimer galgen stadt", der mit dem Finther Galgen identisch ist, kann es sich aufgrund der räumlichen Nähe zum Flurstück „Am Hochgericht“ nur um das Flurstück „Am Rothen Kreuz“ handeln.

Schlussfolgerung

Die Existenz einer in Finther Gemarkung gelegenen Richtstätte ist durch die Flurstückbezeichnung „Am Hochgericht“ und durch Eintragungen auf Karten von 1794 und 1816 hinreichend belegt und nachgewiesen.

Ein für Heidesheim erwähnter Galgen ist mit der Richtstätte in Finther Gemarkung identisch.

Den Indizien nach lag 10die Richtstätte in unmittelbarer Nachbarschaft der Flurstücke „Am Hochgericht“ und „Am Rothen Kreuz“.

Durch diese räumliche Eingrenzung und der Lage südlich der Straße Bingen – Mainz, lässt sich der Ri<chtplatz im Bereich des Finther Flurstücks „Hinkelstein“, heute Obsthof Weyer und VOG-Markthalle, verorten.

Die archäologische Beweisführung steht aus.

Ingo Schlösser, Finthen im Mai 2022

1 Zitiert nach Wikipedia
2 Erwin Koch: Rheinhessische Rechtsaltertümer (Flurnamen und Wüstungen). Würzburg-Aumühle 1939
3Während auf der Karte von 1794 das Symbol einen zweischläfrigen Galgen zu sehen ist (Zwei Pfosten, ein Querbalken), wird auf der Karte von 1816 ein dreischläfiger Galgen (Drei Pfosten, drei Querbalken) gezeigt. Das Symbol lässt somit keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Ausführung zu.
 
 
Den Aufsatz können Sie hier herunterladen: Aufsatz "Am Hochgericht"

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